Berliner Hauptbahnhof
Brehmchens Welt

Nichts geht mehr – Nur ich laufe noch

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Am Sonntag sollte es für mich um 11:08 Uhr ab Hauptbahnhof zurück nach Frankfurt gehen. Meine Eltern und ich gingen bereits gegen 9:40 Uhr aus dem Haus, um bequem und pünktlich mit der S-Bahn zu fahren, da wegen des Radrennens (Velothon) die gesamte Straße für den Autoverkehr gesperrt war und an eine Fahrt mit dem Auto nicht zu denken war. Mein Vater ging vor, da er nicht mehr so gut zu Fuß ist. Entspannt ging ich also mit meiner Mutter die etwa 700m bis zum S-Bahnhof, während uns diverse Radrennfahrer entgegenfuhren. Am S-Bahnhof winkte uns mein Vater schon aus der Ferne zu, wir beschleunigten unseren Schritt, für den Fall, dass die Bahn gleich kommt. Mein Vater klärte uns dann aber auf, dass die Bahn wegen Bauarbeiten nicht fährt. Hm, damit hatten wir jetzt nicht gerechnet. Taxi oder Busse waren keine Alternative, durch die Straßensperrungen ging ja nichts mehr. Was tun?

Ich verabschiedete mich von meinen Eltern und ging mit Reisetasche und Rucksack vor, damit ich nicht noch zusätzlich Zeit verliere. Also ab zum S-Bahnhof Südende, der nicht weit entfernt ist. Ich laufe los, der Rucksack auf dem Rücken wärmt ordentlich, als wenn der Sonnenschein und das Gewicht des Gepäcks nicht genügen würde. Ich bin jetzt 1,2 km unterwegs und am Bahnhof Südende. Meine Eltern sind noch in Sichtweite. Wie ich erkennen muss, komme ich dort aber auch nicht weg. Busse gibt es nicht. Taxen gibt es nicht. Die S-Bahn endet hier und fährt nur Richtung Stadtrand (was mir nicht hilft, abgesehen davon ist der Zug eben erst abgefahren). Hilft also nur noch die U-Bahn, die mich in die Innenstadt bringen kann. Der U-Bahnhof Ullsteinstraße ist 2,5 km entfernt, Rathaus Steglitz ab diesem Punkt „nur“ 2,3 km. Ich laufe nach Steglitz. Ich versuche leicht zu joggen. Kondition und Gepäckgewicht sprechen nach wenigen Metern dagegen. Es ist nach 10:00 Uhr und ich bekomme Panik. Die Streckenposten streiten sich unterwegs mit Autofahrern, die zur Arbeit wollen, aber nicht auf die Straße dürfen. Die Sonne brennt, über mir kreisen 2 Geier.

Kein Ziel in Sicht

Ich laufe den Steglitzer Damm hoch. Meine Eltern sind nicht mehr zu sehen. Ich schlage mich alleine durch . Ich hoffe auf einen Taxistand an der Bismarckstraße. Zu sehen sind nur Streckenposten und Polizei. Überlege, ob mich die Polizei zum Rathaus fährt. Ich stelle mir die Reaktion des Polizisten vor und verwerfe die Idee. Gelaufene Strecke jetzt 2,3 km. Gefühltes Gewicht des Gepäcks liegt bei 50kg. Mein Parfum gibt auf und übergibt das Kommando an meine Schweißdrüsen, die die Kontrolle über mein Körper übernehmen. Nach 10 Monaten Verletzungspause und der Blutspende vom Vortag ist mein Körper auf keinerlei körperlicher Höchstleistungen eingestellt. An der Ecke frage ich einen Passanten, ob hier ein Taxistand ist. Er verneint, wartet selber auf ein Taxi. Ich laufe vor und bitte ihn mich mitzunehmen, falls er ein Taxi bekommt. Ich laufe jetzt nur noch auf der Straße. Lieber von einem Taxi überfahren werden, als es zu verpassen. Die Tasche wechselt von meiner linken Schulter auf die rechte Schulter und umgekehrt. Verliert dadurch aber nicht an Gewicht. Bestimmt ein Materialfehler. Ich passiere 2 Polizistinnen, die im Schatten sitzen und Wasser trinken, während ich verdurste. Es ist 10:20 Uhr, ich bekomme Panik. Wieder ein Joggingversuch. Meine Beine lachen mich nach wenigen Metern aus, wenigstens sterbe ich wie ein Mann. Filandastraße, ich bin 2,9 km gelaufen und auf mich kommt ein Taxi zu. In dem Taxi der Passant von vorhin. Ich steige ein und spare mir 550m Fußweg. Ich zahle das Taxi, habe keine Geduld für Wechselgeldspiele. Auf der Treppe zur S-Bahn kommen uns Leute entgegen. Ich versuche zu rennen, aber zu spät, der Zugführer macht mir die Tür vor der Nase zu. Ich habe Gewaltphantasien gegen der Bahnangestellten, aber der ist ja schon weg. Ich warte 10 Minuten auf die nächste Bahn und komme nach Plausch mit dem Taxiteiler um 10:48 Uhr Friedrichstraße an. In 20 Minuten geht mein Zug. Touristen stehen auf der Rolltreppe und stehen im Weg. Ich überlege, wie Bruce Willis die Rolltreppe hochgehen würde, stelle mich aber wie Andreas Brehm hin. Die S-Bahn fährt ein, noch 15 Minuten…

Endspurt

Mein Vater ruft an. Ich sage nur „Nicht jetzt!“, Gespräch beendet. Ankunft Hauptbahnhof. Es ist etwa 10:58 Uhr. Die nächste Rolltreppe und ich denke wieder an Bruce Willis, aber ich bin mir jetzt sicher, dass ich den Zug bekomme. Ich hole 2 Cola zum Flüssigkeitsausgleich und stehe um 11:04 Uhr am Bahnsteig vor meinem Waggon. Die Cola-Flaschen stellen sich als Segen heraus, der Zug hat kein Bistro. Nach einer Stunde überqueren wir die Elbe. Das Wetter wechselt und vor Fulda kommt die Durchsage, dass in der Fußgängerunterführung das Wasser 5cm hoch steht. Es folgt eine erneute Ansage mit dem Hinweis, dass das Wasser in der Unterführung jetzt 15cm hoch ist. Ich rechne mit einer weiteren Ansage und einem Hinweis auf die Badekappenpflicht in der Unterführung, aber es kommt nichts. Nachtrag: Seit heute ist die ICE-Strecke über die Elbe gesperrt. Etwas Glück hatte ich also doch. Ende.