
Das Pilotprojekt
Es ist dann doch noch kalt geworden. Meine Eltern, die mich zum Zug gebracht haben, sind dick „eingemümmelt“: Schal, Mütze, dicker Pullover, die Schultern sind hochgezogen und der Kopf ist leicht eingeduckt. Mein Vater weist noch auf den kleinen geheizten Warteraum auf dem Bahnsteig hin (der nur wenigen Leuten überhaupt bekannt ist), aber der Zug fährt ohnehin gleich ein. Er sieht so verfroren aus, dass er die Wärmestube wohl auch nur für wenige Sekunden betreten hätte.
Ich habe keine Platzreservierung, wir stehen daher auf Höhe des vermuteten Zugendes, aus Erfahrung steigen die Leute immer eher mittig ein, so sind freie Sitzplätze am Zugende wahrscheinlicher.
Wenn ich von einem vermuteten Zugende schreibe, so bezieht sich die Formulierung auf den Umstand, dass am Bahnhof ein Pilotprojekt gestartet wurde, bei dem die Wagenstandsanzeige von Papierformat (=Aushang) auf eine elektronische Anzeige umgestellt wird. Eine sehr gute Idee, da die elektronische Anzeige variabler ist (Stichwort: umgekehrte Wagenreihenfolge) und besser lesbar dank eines großen Monitors. Aus diesem Grund sind die Aushänge auf Papier bereits abgehangen. Dumm nur, dass die Monitore auch nicht nutzbar sind und so jegliche Infomationen fehlen.
Mit der Zugeinfahrt kann ich nun im Sprint mit Koffer und Rucksack nach vorne rennen, weil das Zugende doch 50m entfernt ist. Entsprechend schnell bildet sich am Zugende eine Menschentraube. So war das von mir eigentlich nicht angedacht.
Der Zug kommt vom Hauptbahnhof, viele Plätze sind also schon besetzt. Eine Frau hat ihren Rucksack auf den Sitz neben sich gestellt. Ich frage, ob der Platz noch frei ist. Sie holt danach tief Luft und seufzt tief und langatmig, als wenn sich der Kummer der letzten beiden Weltkriege schlagartig in ihrem Leben reflektiert hätte. Botschaft: Warum störst Du die Ruhe meines Gepäcks?
Die Frau bedient sich einer Ego-Manier, die bei Zugreisenden schon lange eingezogen ist: Der Sitzplatz gehört meinem Gepäck, die Gepäckablage meiner Jacke. Mir doch egal, wenn noch andere Reisende im Zug reisen und vielleicht sitzen möchten! Und dennoch: die Dame macht den Sitz frei und ich kann mich setzen.
Ich verstaue meine Tasche und setze mich mit Handy und Ladegerät auf meinen Sitzplatz. Ich drehe mich zu der Frau (mit Ladegerät im Anschlag) und frage, ob sie die Steckdose braucht, sie verneint. Ich strecke die Hand aus und stecke das Ladegerät links von ihrem Bein in die Steckdose. Das kommentiert sie dann mit den Worten, dass ich doch nur was zu sagen bräuchte. Ich bemerke, dass ich sie ja extra deswegen angesprochen hätte, was sie dann mit „Ach, so!“ kommentierte. Hä?

Den Rest der Fahrt schweigt sie dann, aber das Gesicht spricht Bände. Keine Ahnung, warum die Frau so mürrisch und schlecht gelaunt ist. Bin jedenfalls froh, dass ich sie wohl nie wieder sehen werde. In Halle steigt sie aus. Und mein Gemüt wird wieder sonnig 🙂 .
Nachtrag:
Als ich später nochmal auf meinen Fahrschein gucke, entdecke ich, dass ich mir doch eine Reservierung für den Zug besorgt hatte. Offenbar in weiser Voraussicht, dass ich keinen Stress bei der Sitzplatzsuche haben möchte. Dumm gelaufen.

