
Anna-Lena, Du hast nich‘ auf andere Handys zu gucken
„Anna-Lena, Du hast nich‘ auf andere Handys zu gucken. Haben wir uns da verstanden?“.
Die Frauenstimme kommt aus dem hinteren Teil des Wagens und hält seit 10 Minuten den Wagen 27 in Atem. Sehen kann ich sie nicht, aber die raue Frauenstimme übertönt jegliche anderen Geräusche und Fahrgäste im ICE.
Der Dialekt ist für mich noch nicht ganz klar zu identifizieren. Eine Mischung aus Rheinland und einem Hauch Ruhrgebiet.
Es fing an mit einem lauten Telefonat. „Wie, der Koffer ist weg? Dat kann doch nisch sein? Da werde ich mich beschweren? Wo ist denn der Koffer hin?“. Okay, ärgerliche Sache, aber der Tonfall ist für den Jahrmarkt angebracht, nicht im Zug, wo jeder ungefragt mithören muss. Die Frau hat im Zug jedenfalls die komplette Aufmerksamkeit.
Stimmlich und charakterlich ist Anna-Lena offenbar ein netter Gegenentwurf zur Mutter. Ich habe Zweifel, dass das so bleiben kann bei dem schlechten Einfluss.
Das nächste Telefonat fängt schon lustig an. „Man hat mir gesagt, dass ich mich über ihnen beschweren kann.“ Na, ich danke sie.
Anna-Lena wird noch wiederholt von der Mutter gemaßregelt, wobei eigentlich nur die Unausgeglichenheit der Mutter unangenehm auffällt. Das arme Kind wirkt eher ruhig.
Inzwischen kennt der ganze Wagen die Handynummer der Dame und ihren Nachnamen (Name der Redaktion bekannt). Sie sagt alles laut durch. Ich bete, dass weitere intime Details aus ihrem Leben heute nicht auch noch eine Rolle spielen.
Der Streit mit der Tochter geht weiter. Das „Fräulein“ (so die wiederholte Anrede) hört zu laut Musik und dies nervt die Mutter. Eigentlich okay, aber auch hier hört man nur das Geschrei der Mutter und nicht die Tochter (das arme Ding). Die Mutter droht, dass sie zur Strafe in das Bistro geht, damit sie Ruhe hat.
Naja, nicht nur sie hätte dann Ruhe ?.
Das Spektakel geht weiter. „Den Hermes hat bei mir angerufen. Ein Koffer ist weg. Soll ich jetzt die ganze Zeit in den gleichen Klamotten rumlaufen?“
„Ja, okay, dann rufe ich wegen der Entschädigung bei der Bundesbahn an.“ Bundesbahn hört man ja auch nicht mehr oft. Wie Schutzmann oder Kaufmannsladen.
Und eben erfahre ich, dass die Dame meine Strecke fährt. Na, toll. Entertainment für weitere 3 Stunden garantiert. Man kann aber auch nicht weghören. Die Faszination des Grauens.
Am Zielbahnhof steigt Frau A. um, in die (Zitat) „Bayrische Bundesbahn“. Meine Wortschöpfungsrezeptoren arbeiten auf Hochturen.
Das nächste Highlight. Die Dame will in München umsteigen und rätselt, wo Gleis 1 ist. „Ich war doch noch nie in München.“ Ich lache eine Minute auf meinem Sitzplatz durch und habe Tränen in den Augen. Ich habe endlich eine Frau für Herrn Schlemmer vom Grevenbroicher Tageblatt. Als eine Angestellte der „Bundesbahn“ durch den Gang kommt, wird sie um Auskunft gebeten, wie man denn nun zum Bahngleis kommt. Die Frau erklärt ruhig und anschaulich. Die Antwort von Frau A. kommt ebenfalls prompt: „Hääääääääääää?“. Ganz großes Kino.
Die Frau kommt übrigens aus Düsseldorf und lebt wohl in Ratingen.Und wie es aussieht, fahren wir danach wieder im gleichen Zug. Jackpot. Ab heute trinke ich wieder Alkohol ?. Sie hat auch schon angekündigt, was sie in der Wartezeit macht: “ Da rauche ich MIR erst mal eine.“
Frau A. hat übrigens ein Facebookprofil. Aber das bleibt geheim.
Bei bestem Wetter saust der Zug bei fast 300 km/h durch die Landschaft. Eine Stunde vor Ankunft ist es ruhig geworden um Frau A. Die lange Fahrt hatte wohl doch eine beruhigende Wirkung. Ich lasse mich überraschen und hoffe, dass ich meinen Anschlusszug nicht verpasse am Gleis 9 3/4.

